39_tagIch hatte zweimal im Leben Todesangst. Das erste Mal war vor über dreissig Jahren, als ich vor dem Ober-Gebäude von mehreren Streifenwagen abgepasst und spitalreif geprügelt wurde. Ich reichte Strafanzeige ein, und, oh Wunder, zwei der vierzehn beteiligten Polizisten wurden verurteilt. Das zweite Mal war am 4. Juli 2008. Mit dem Kapitel Polizei hatte ich damals abgeschlossen, auch an Demos ging ich kaum mehr. Einige Jahre zuvor hatte ich nämlich vor Bundesgericht einen grossen Sieg errungen: Die Richter hielten unmissverständlich fest, dass es sich ein Polizist gefallen lassen muss, wenn Journalisten ihn bei der Arbeit filmen oder fotografieren. Danach sagte ich mir: Okay, ich hatte dreissig Jahre mit dem Seich zu tun, jetzt ist gut.

An jenem 4. Juli also bin ich – rein zufällig! – in dem Moment am besetzten Hardturm-Stadion vorbeigefahren, als Polizeibeamte in das Areal eindrangen. Ich sagte zu Susann, meiner Frau: Halt an, ich muss fotografieren. Derart aggres-sive Polizisten habe ich noch nie gesehen: total geladen, extrem nervös, fingen sofort an, mit Gummigeschossen herumzuballern. Die zwei Schmier, mit denen ich in der Folge hauptsächlich zu tun hatte, hätten meine Kinder sein können. Und was machen die beiden? Sie sprechen mich mit Namen an! Rózsa, du Sau. Da merkte ich, dass der Hass der Polizisten auf mich von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ich bin so brutal drangekommen, dass ich mir sagte: Fertig, ich wandere nach Ungarn aus.

Die nächsten Jahre verbrachte ich zur Hauptsache in Budapest. Erst dort habe ich angefangen, mich mit meiner jüdischen Identität zu beschäftigen. Ich bin überzeugter Atheist, war es schon als Kind. Als eine Schulkameradin bei einem Skiunfall ums Leben kam, habe ich vom Religionslehrer eine Ohrfeige kassiert, weil ich ihn fragte: Wenn es einen Gott gibt, wieso hat er zugeschaut?

Eines Tages, ich sitze in meiner Budapester Wohnung, klingelt das Telefon. Hallo, hier ist Lili, deine Cousine. Ich: Kennen wir uns? Sie: Nein, ich lebe in Tel Aviv und bin in Ungarn auf Verwandtenbesuch. Wir trafen uns in der Blauen Rose, einem Café in der Innenstadt. Ich hatte Schiss, Lili könnte streng religiös sein, mit Perücke und allem. Das Gegenteil traf zu: eine total sympathische, total normale Frau, die Schweinsfilet bestellte! Wir unterhielten uns bis in den Abend hinein.

Ein knappes Jahr später reiste ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Israel. Es war unglaublich. Tel Aviv ist eine tolle Stadt. Am letzten Abend lud Lili mich in ein Fischrestaurant am Hafen ein. Sie erzählte, dass sie eine kleine Wohnung in Budapest kaufen möchte. Wieso?, habe ich gefragt, du hast es doch wunderschön hier. – Shelter. Das Wort, das sie gebrauchte, warShelter. Es bedeutet Schutz, Zuflucht, Luftschutzkeller. Dann erzählte sie, wie sie seit vierzig Jahren kaum eine Nacht durchschläft. Weil sie träumt, dass eine Rakete in ihr Haus einschlägt, oder weil tatsächlich die Sirenen losgehen.

Das ist mir eingefahren. Total. Eine israelische Jüdin hält es nicht mehr in ihrer Heimat aus. Und der sichere Ort, nach dem sie sich sehnt, ist Ungarn – ein angeblich antisemitisches Land mit einem angeblich rechtsextremen Ministerpräsidenten! Orbán ist zweifelsohne ein Schafseckel. Trotzdem setzt er Dinge um – staatliche Renten, Arbeitnehmerschutz –, die bei uns von den Linken gefordert werden. Aber ich schweife ab.

Seit jener Reise bin ich ein knallharter Verteidiger Israels. Täglich verbringe ich rund zwei Stunden auf Facebook. Wenn ich Einträge von linken Antisemiten und Palästina-Verherrlichern entdecke, dann reagiere ich sofort. Ja, ja, ich bin ein impulsiver Mensch. Manchmal entschuldige ich mich im Nachhinein, wenn ich jemanden zu sehr heruntergeputzt habe. Ich finde halt: Israel hat unsere bedingungslose Solidarität verdient. Es ist ein kleines, demokratisches Land, das umzingelt ist von schäbigen Diktaturen, die es auslöschen wollen. Mein Mitgefühl mit den Palästinensern ist begrenzt. Das meiste, unter dem sie leiden, haben sie sich selbst eingebrockt.

Natürlich gibt es Dinge, die man an Israel kritisieren kann. Allerdings nicht so viele wie an der Schweiz! Ich bekomme jedes Mal Lämpe, wenn ich sage, die Schweiz sei kein Rechtsstaat. Mein Einbürgerungsgesuch wurde dreimal abgelehnt. Beim dritten Mal, 1992, hat der damalige Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann – bekanntlich ein Sozialdemokrat – den Ablehnungsantrag persönlich unterschrieben. Zwei Jahre danach bezeichnete er mich in der NZZ als seinen «Intimfeind» – Intimfeind! Später bin ich aus der SP ausgetreten, nach 27 Jahren.

Der Regisseur Erich Schmid hat einen Dokfilm über mich gemacht. Für die Dreharbeiten brachte er Estermann und mich zusammen. Wir trafen uns im Musiksaal des Stadthauses. Estermann ist rasch sauer geworden, behauptete, sich nicht mehr an die Geschichte mit der Einbürgerung zu erinnern. Einige Tage später bekam Erich Schmid Post vom Anwalt. Unter Androhung einer Geldstrafe von 10 000 Franken wurde es ihm verboten, die Aufnahmen mit Estermann zu verwenden.

Am 24. Dezember 2000 wurde ich doch noch eingebürgert – nach 44 Jahren in der Schweiz. Obwohl ich nun mit Susann verheiratet war und von Gesetzes wegen Anrecht auf den Pass hatte, brauchte es wieder einen Anwalt. Freude verspürte ich keine mehr. Aber klar: Ich bin Schweizer durch und durch.

Staatenlos – Klaus Rózsa, Fotograf. Ein Film von Erich Schmid. Vorführungen im Rahmen des Zurich Film Festival: 25.9., 19.15 Uhr,  Kino Arena, Sihlcity; 30.9., 14.30 Uhr, Corso 3.